Fastenzeit im Schlaraffenland

Nina war sauer, stinksauer. Die Mutter hatte ihr verboten, Süßigkeiten zu essen und auch noch den ganzen Tag über. Sie hatte ihr überhaupt verboten, die Küche zu betreten. Dabei gab es dort einen Schrank, in dem sich allerlei Leckereien befanden, Schokolade, Kekse, Waffeln, diverse süße Riegel und vieles mehr. Und all das sollte Nina jetzt nicht bekommen. Da war es doch wirklich verständlich, daß sie sauer war, oder?

Mutter meinte, Nina sei zu dick, und deshalb müsse sie nun fasten und dürfe keine Süßigkeiten essen. Nun ja, vielleicht hatte sie ein bißchen sogar Recht. Nina stand jetzt im Flur und betrachtete sich im Spiegel. War sie wirklich zu dick? Oma nennt mich immer "mein kleines Pummelchen" , dachte Nina bei sich. Aber Oma meint das wirklich lieb und ganz und gar nicht vorwurfsvoll. Ob ich vielleicht Oma besuchen gehe? überlegte Nina. Oma wohnte gleich ich Haus nebenan. Das war sehr praktisch.

"Ich gehe zu Oma," rief Nina, schlüpfte gemütlich aus ihren Hausschuhen und in die Turnschuhe und ging zur Tür.

"Du brauchst nicht zu meinen, daß dir Oma Schokolade gibt," hörte sie die Mutter aus dem Wohnzimmer rufen. Nina schaute nur verärgert und antwortete gar nicht.

Fasten, so ein Quatsch! Und überhaupt, ich will ja gar nicht dünner werden. Ich will nicht so eine Bohnenstange sein wie manch andere Mädchen. Nina stierte grimmig vor sich hin, während sie gemächlich die wenigen Schritte zum Nachbarhaus trottete.

"Na, du machst aber ein Gesicht," lächelte Oma, während sie ihre Enkelin zu sich in die Wohnung ließ, "was ist denn passiert?"

"Nichts," brummte Nina, "und überhaupt. Und außerdem ist Mama gemein. Wenn sie mir schon verbietet, Schokolade zu essen, dann sollte sie Papa auch verbieten zu rauchen. Das stinkt außerdem so."

"Aha," erkannte die Großmutter die Lage sofort, "du ärgerst dich also, weil Mama dir nicht erlaubt, etwas Süßes zu essen. Aber was hat das mit dem Rauchen von deinem Papa zu tun?"

Nina schaute ihre Großmutter erstaunt an. "Mama sagt, ich soll fasten, weil ich zu dick bin. Die Lehrerin in der Schule hat gesagt, Fasten würde bedeuten, daß man auf etwas verzichtet, was man gerne tut. Papa raucht gerne. Warum fastet er nicht auch und verzichtet auf das Rauchen?"

"Du sollst doch nicht auf etwas verzichten," wandte die Großmutter liebevoll ein, "du sollst nur keine Süßigkeiten essen, weil du zu dick bist."

"Papa ist auch dick."

"Aber dein Papa ist viel älter als du."

"Na, und? Was hat das Dick sein mit dem Alter zu tun? Und außerdem stört es mich überhaupt nicht, daß ich nicht dünner bin."

Die Großmutter sah ein, daß ein Fortführen dieser Diskussion wohl im Augenblick nicht viel Sinn hatte. Als nahm sie Nina einfach mit sich ins Wohnzimmer.

Großmutter hatte ein wundervolles Wohnzimmer. Das schönste und größte dort war die lange Bücherwand. Nina stöberte überaus gerne darin und vor allen Dingen in den Regalen mit den alten Kinderbüchern ihrer Mutter. Nina las auch sehr gerne. Das Durchsehen der alten Bücher lenkte Nina eine ganze Weile über von ihren Gedanken an die Süßigkeiten ab. Doch da plötzlich stieß sie auf ein altes Bilderbuch, das hinter anderen Büchern versteckt in einer Ecke stand.

"Das Schlaraffenland", stand in großen Lettern darauf. Nina hatte davon noch nie etwas gehört. Interessiert schlug sie das Buch auf.

Das Schlaraffenland ist ein Land irgendwo ganz weit weg. Man muß sich zuerst durch einen Berg von süßem Brei essen, dann gelangt man hinein. Drinnen sind die Zäune der Häuser aus Würstchen, und gebratene Hähnchen fliegen in der Luft herum. An den Bäumen hängen allerlei Säfte, und bunte Torten stehen mitten in den Wiesen. Die Leute liegen alle nur faul herum und essen offensichtlich den ganzen Tag über.

Was für ein Leben! dachte Nina begeistert. Warum hatte sie dieses Buch noch nie zuvor gesehen? Die Großmutter beobachtete, wie Nina fasziniert von einer Seite zur nächsten blätterte.

Auf einmal hob Nina nachdenklich den Kopf und schaute zu ihrer Großmutter. "Ist das Schlaraffenland wirklich so weit weg?" fragte sie. "Unsere Häuser sind nicht aus Süßigkeiten, und unsere Zäune sind nicht aus Würstchen. Aber unsere Küche daheim ist doch fast ein Schlaraffenland. Dort ist immer alles da. Der Kühlschrank und die Schränke sind immer bis oben hin voll mit Essen. Ich brauche mir nur davon zu nehmen. Es gefällt mir auch besser, daß das Essen in der Küche ist und nicht draußen. Mama sagt, draußen sei alles schmutzig wegen der Umwelt und so. Da ist es sicher besser, daß wir das Essen im Haus haben."

Die Großmutter war während Ninas Ausführungen direkt ernst geworden. "Ja, du hast recht, mein kleines Pummelchen," nickte sie zustimmend, "du lebst wirklich in einem Schlaraffenland. Und wenn ich an die vielen Spielsachen in deinem Zimmer denke, so ist das ebenfalls mit dem Schlaraffenland zu vergleichen."

"Und warum soll ich dann hungern," kam Nina auf ihren Ärger von zuvor wieder zu sprechen, "die in dem Buch finden es großartig, im Schlaraffenland zu sein. Von denen hungert keiner. Und so dick sind sie dort auch wieder nicht."

"Das Buch ist in einer Zeit entstanden, in der die Menschen nicht so viel zu essen hatten. Die Sehnsucht nach dem Schlaraffenland gibt es bei den Menschen bereits seit vielen Tausenden von Jahren. In unserer heutigen Zeit hingegen leben die meisten Kinder fast wie im Schlaraffenland. An materiellen Dingen fehlt ihnen nichts. Man kann sich ja auch alles kaufen, sofern man genügend Geld hat. Aber sind die Menschen deshalb glücklicher?"

Nina verstand die Frage ihrer Großmutter nicht ganz.

"Was wünscht du dir am meisten überhaupt?" fragte Oma jetzt.

Nina überlegte. "Ich möchte in der Schule keine Hausaufgaben haben oder besser noch, ich möchte immerzu Ferien haben."

"Wirklich," hakte die Großmutter nach.

Nina grübelte erneut. "Nein, eigentlich ist es in der Schule doch ganz schön. Manchmal erzählt die Lehrerin sogar vor richtig spannenden Dingen."

"Was wünscht du dir dann?"

"Ich weiß es nicht," seufzte Nina. "Vielleicht wünsche ich mir, daß ich irgendetwas ganz gut kann und mich die anderen Kinder dann bewundern. Aber dafür müßte ich mich wahrscheinlich ziemlich plagen. Nein, das mag ich doch nicht. Lieber werde ich nicht so sehr bewundert."

Nina dachte noch ein bißchen über die Frage der Großmutter nach. Dann aber hatte sie keine Lust mehr dazu. Sie legte das Buch über das Schlaraffenland zurück an seinen Platz und wandte sich einfach anderen Büchern zu.

Lebst Du ebenfalls im Schlaraffenland? Oder gibt es Dinge, die du dir sehr wünscht? Kannst du sie erreichen?

Vielleicht hast du ja Spaß daran, aktiv zu sein und nicht nur faul herumzuliegen. Dann wirst du bestimmt eine Menge erreichen.