Kürzlich unterhielt ich mich mit einem weit überdurchschnittlich intelligenten, jungen Mann, der von frühester Jugend an immer sehr gerne gelesen hat. Er erzählte mir, daß er derzeit bisweilen eine etwas eintönige Arbeit zu absolvieren hat und während dieser statt Musik gerne Hörbücher laufen läßt. Er meinte, daß er jedoch ein Hörbuch im Durchschnitt ca. zwei bis dreimal abspielen muß, bis er wirklich den gesamten Inhalt mitbekommen hat. Man würde eben bei einem Hörbuch nicht wie bei einem richtigen Buch immer wieder anhalten, gelegentlich auch zurückblättern, um etwas nachzulesen, und das Lesetempo den eigenen Gedanken dazu anpassen. Ein Hörbuch läuft durch, ist fast wie eine Berieselung, und es geht weiter, gleichgültig ob man konzentriert zuhört oder nicht.
Es entstand daraus ein Gespräch darüber, wie sinnvoll es sei, Kindern Hörbücher zu geben.
Wenn eine Mutter ihrem Kind eine Geschichte erzählt oder ein Buch vorliest, kann das Kind jederzeit unterbrechen. Es kann nachfragen, wenn es etwas nicht verstanden hat, oder es kann um eine ausführlichere Schilderung des einen oder anderen Details bitten. Aber auch die Mutter wird ihren Erzählfluß der Aufmerksamkeit des Kindes anpassen. Wenn sie merkt, daß das Kind nicht mehr konzentriert zuhört, wird sie stoppen, eine Pause machen oder das Kind nach seinen Gedanken fragen.
Wenn etwa eine Kindergärtnerin einer ganzen Gruppe von Kindern etwas erzählt oder vorliest, kann sie zwar in gewissem Umfang auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder eingehen. Aber sie wird es kaum schaffen, daß alle Kinder zur gleichen Zeit gleich intensiv zuhören.
Der Unterschied ist wie bei einer Unterrichtsstunde in der Gruppe im Gegensatz zu einer Einzelstunde. Eine Einzelstunde ist im Hinblick auf das Lernziel immer am effektivsten. Unabhängig von der bedeutend intensiveren Wirkung des Lernens erlebt das Kind bei einer Einzelstunde die konzentrierte Aufmerksamkeit des Erwachsenen. Das Kind spürt die Zuwendung des Erwachsenen ihm ganz persönlich gegenüber. Das ist für das Kind wie Liebe tanken. Es wird gestärkt und innerlich gefestigt.
Was passiert aber nun, wenn ein Kind von Klein auf daran gewöhnt wird, sich von Hörbüchern berieseln zu lassen? Das Kind lernt sehr schnell, daß man ein Hörbuch immer wieder abspielen kann. Es ist also gar nicht notwendig, voll konzentriert zuzuhören. Was man beim einen Mal nicht mitbekommt, schnappt man eben beim nächsten Mal auf.
Wenn ein Kind mit einer solchen, wenn auch unbewußten, inneren Einstellung dann in den Kindergarten und später in die Schule kommt, sieht es dort keinerlei Veranlassung mit voller Konzentration aufzupassen. Das kleine Kind ist hier nämlich nicht in der Lage zu differenzieren. Beim Hörbuch kann man doch auch alles beliebig oft wiederholen. Wiederholt der Lehrer nicht auch beliebig oft? Ein Hörbuch verlangt auch nicht wirklich Aktivität vom Zuhörer. Also sitzt man dann bequem im Klassenzimmer und läßt sich vom Gerede des Lehrers dort vorne berieseln. Das ist leider heute bereits die Einstellung einer sehr großen Anzahl von Kindern.
Die Eltern sind dann wie vor den Kopf geschlagen, wenn ihnen gesagt wird, ihr Kind habe Konzentrationsschwäche, Lernschwäche, würde nicht aufpassen und nicht aktiv im Unterricht mitarbeiten.
Der allgemeine Trend geht immer mehr dazu, daß beide Eltern arbeiten und das Kind möglichst in einem Ganztagskindergarten untergebracht wird. Man will ja schließlich Chancengleichheit für alle Kinder. Möglichst alle Kinder sollen in den Genuß kommen, jeden Tag von 8:00 bis 18:00 Uhr einen Kindergarten besuchen zu dürfen. Wo bleiben aber für diese Kinder die Einzelstunden mit der persönlichen Zuwendung seitens der Eltern? Wenn sie dann am Abend mit einem Hörbuch ruhiggestellt werden, weil nämlich die Eltern viel zu müde von der Arbeit sind, um ihrem Kind noch etwas vorzulesen oder zu erzählen? Noch praktischer ist es, wenn man bereits das Baby in eine Kinderkrippe steckt. Dann ist es aufgeräumt, und die Mutter hat Zeit, ihre Persönlichkeit zu entfalten. Ach ja, es ist in Bezug auf die soziale Entwicklung des Kindes wichtig, daß es unter Gleichaltrige kommt. Das ist doch ein gutes Argument, oder?
Das Baby oder Kleinkind könnte auch unter Gleichaltrige kommen, wenn die Mutter mit ihm auf den Spielplatz geht. Dann hat es für eine halbe Stunde oder eine Stunde den wichtigen sozialen Kontakt, und hinterher kann es sich von diesen sehr anstrengenden Spielen bei der Mutter ausruhen.
Für ein Kind im Alter zwischen drei und sechs Jahren wären vier Stunden Kindergarten pro Tag mehr als ausreichend. Es lernt dort das wichtige, soziale Verhalten in der Gruppe ebenso wie guten Lernstoff für Vorschulkinder.
In der übrigen Zeit aber würde es zuhause lernen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, und es würde Einzelstunden von der Mutter bekommen, die es enorm innerlich kräftigen und zu einem selbstbewußten Menschen machen.
Die Entscheidung der Eltern, ob sie ihre Kinder in eine Kinderkrippe stecken, und wie lange sie ihre Kinder täglich in den Kindergarten schicken, hängt von den Prioritäten ab, die sie setzen. Was ist wichtiger?
- die berufliche Selbstverwirklichung der Mutter, bei der ein Kind stört,
- die Zeit für persönliche Zuwendung zum Kind, wodurch es enorm gestärkt wird,
- viel Geld zu verdienen?
Lassen wir uns nicht durch politische oder gesellschaftliche Trends in die Irre führen. Ein Kind, das die persönliche Zuwendung und Liebe der Eltern intensiv erlebt, wird ein in sich ruhender, stabiler Mensch, der für die Stürme des Lebens gewappnet ist.